Aufgabenteilung ist ein Dauerauftrag

Die Verteilung der öffentlichen Aufgaben zwischen Kanton und Gemeinden soll überprüft und die Aufgaben sollen möglichst bürgernah, also der untersten Ebene zugeordnet werden. Der Verband Basellandschaftlicher Gemeinden (VBLG) und der Regierungsrat haben sich dabei auf einen paritätischen Prozess geeinigt und nennen ihn «Verfassungsauftrag Gemeindestärkung» (VAGS). Welche Herausforderungen bringt dieser Verfassungsauftrag für den Kanton und die Gemeinden? Urs Hintermann, Gemeindepräsident von Reinach, und Regierungsrat Anton Lauber im Gespräch.
Die Forderung nach einer Neuverteilung der Aufgaben zwischen Kanton und Gemeinden wurde spätestens mit der Charta von Muttenz im Jahr 2012 vorgebracht. Jetzt haben wir 2017 und mit dem beschlossenen VAGS kann das Pilotprojekt zur Aufgabenteilung im Bereich Raumplanung starten. Warum hat das so lange gedauert?
Anton Lauber: Indirekter Auslöser für die Forderung nach einer neuen Aufgabenteilung war die Revision des Finanzausgleichgesetzes 2010. Die Gebergemeinden waren mit unerwartet hohen Zahlungen konfrontiert. So standen die Solidarität und der Zusammenhalt zwischen Geber- und Empfängergemeinden zur Diskussion. Besprochen wurden Ideen zur Entlastung der Gebergemeinden, aber auch das Entwicklungspotenzial der Empfängergemeinden. Der Gedanke der Regionalisierung war hier zentral. Auch wenn wir – ich war damals noch Gemeindepräsident von Allschwil – in der Charta von Muttenz Forderungen wie mehr Gemeindeautonomie oder eine Aufgabenteilung nach dem Prinzip der Subsidiarität etc. festgeschrieben haben, ging es in erster Linie um die horizontale Ebene: die Zusammenarbeit zwischen den Gemeinden, in Regionen. Die vertikale Ebene, also das Verhältnis zwischen Gemeinden und Kanton, wurde erst später zum Thema.
Urs Hintermann: Nach dem Finanzausgleich und der Zusammenarbeit der Gemeinden ist die Aufgabenteilung das dritte Thema. Einige Gemeinden wollten dafür eine Gemeindeinitiative lancieren. Aber dann sind wir mit Regierungsrat Toni Lauber zusammengesessen und statt der Initiative bauten wir die Arbeitsgruppe Aufgabenteilung auf. Hier war es wichtig, zunächst Grundsätze der Zusammenarbeit festzulegen, Prinzipien, nach denen Gesetzesarbeit gemacht werden soll. Das andere Ziel ist, konkret bestimmte Themen anzupacken. Aber wenn es konkret an die Verteilung von Aufgaben geht, sobald man ins Detail geht, wird es kompliziert. Was ist eine Aufgabe? Ist «Bildung» eine Aufgabe? Oder ist «Leitung einer Schule» eine Aufgabe? Wenn «Bildung» als Ganzes eine Aufgabe ist, müsste sie ganz an den Kanton oder die Gemeinde gehen. Das ist nicht sinnvoll. Irgendwie braucht es immer beide. Interessanter ist deshalb die Frage: Welchen Anteil, welche konkreten Teilaufgaben gehen zum Kanton, welche zur Gemeinde? Das ist es, was wir anhand von ganz konkreten Themen angehen.
Das Pilotprojekt findet im Bereich Raumplanung statt. Welche anderen Aufgabenbereiche haben für VAGS Priorität?
Urs Hintermann: Wenn wir mit der neuen Aufgabenteilung etwas bewirken wollen, müssen wir schauen, was die verschiedenen Bereiche kosten. Ganz klar sind Bildung, Gesundheit und Alter prioritär. Das sind die ganz grossen Brocken, die uns Gemeinden am meisten Sorgen bereiten. Hier haben wir die grössten Ausgaben. Wenn wir hier etwas gut oder schlecht machen, wirkt sich das finanziell am stärksten aus. Die Raumplanung ist hingegen auf der Einnahmenseite relevant. Sie steuert die Entwicklung. Mit einer schlechten Stadt- oder Regionalentwicklung geht es uns schlecht, wenn wir diese Aufgabe gut lösen, prosperieren wir.
Anton Lauber: Wir haben in der Arbeitsgruppe zunächst eine Auslegeordnung gemacht und dann gemerkt, dass es auf die Schwergewichte ankommt. Beim VAGS geht es um Effizienz, es geht um Qualität und am Schluss ums Kostenbewusstsein. Wenn der Kanton Aufgaben abgeben soll, geht das vielleicht bei den grossen Gemeinden. Aber bei einer Gemeinde mit 300-500 Einwohnerinnen und Einwohnern wird das schwierig. Es braucht eine kritische Grösse, sonst kann die Aufgabenerfüllung nicht günstiger, nicht effizienter und auch qualitativ nicht unbedingt besser werden.
Urs Hintermann: Es geht nicht nur darum, welche Aufgaben der Kanton den Gemeinden abgeben soll. Je länger wir uns damit befassen, desto mehr stellt sich auch die Frage, welche Aufgaben man regional anpacken muss.
Sie, Herr Regierungsrat Lauber, haben im Sommer 2015 im Hinblick auf das neue Gesetz zu den Gemeinderegionen die Gemeinden dazu ermutigt, Regionalkonferenzen zu bilden. Wie steht es damit?
Anton Lauber: Die Gemeinden haben den Ball aufgenommen und sich getroffen. Aber der Landrat hat das Gemeinderegionengesetz auf Eis gelegt. Die Landräte waren skeptisch, weil es von einigen Gemeinden Widerstand gab: Man arbeite schon zusammen, das Gesetz brauche es nicht. Eigentlich ist das Gemeinderegionengesetz «bottom-up» gewachsen, aber diskutiert wurde es dann «top-down». Der Landrat ist der Meinung, wir sollen die Gemeinden ohne Vorgaben sich selbst organisieren lassen und schauen, ob sich die Verbindlichkeit von selbst einstellt. Ich denke, das ist keine dauerhafte Lösung.
Herr Hintermann, Sie haben mit der Birsstadt Erfahrung in der interkommunalen Zusammenarbeit. Was sind die Herausforderungen, wenn sich Gemeinden zu einer Region zusammenschliessen sollen?
Urs Hintermann: Das Problem ist, dass die interkommunale Zusammenarbeit nirgends in den Gesetzen vorgesehen ist. Es gibt noch kaum Aufgaben, für die explizit Regionen verantwortlich sind. Wenn wir in der Birsstadt die Entwicklung von Gewerbe, Wohnen, Verkehr etc. nicht lokal sondern regional denken möchten, dann gibt es gar keine Rechtsgrundlage dafür. Wir haben ein Raumkonzept erarbeitet, aber das hat null Verbindlichkeit für die Gemeinden oder für den Kanton. Zudem fehlen uns die notwendigen Instrumente für eine effiziente Zusammenarbeit. Dass der Landrat auf das Gesetz nicht eingetreten ist, ist also eine verpasste Chance. Zusammenarbeit ausschliesslich auf freiwilliger Basis funktioniert nicht.
Anton Lauber: Eine erfolgreiche Zusammenarbeit ist auf einen gewissen Organisationsgrad und auf Verbindlichkeit angewiesen. Ich habe immer von einer Basisorganisation geredet. Sie soll die Gemeinden dazu befähigen, ihre Aufgaben selbst wahrzunehmen, selbst zu koordinieren. Für mich ist wichtig, dass sich diese Regionen selbst organisieren und nicht bloss im Verhältnis zum Kanton, sondern vor allem im Verhältnis zueinander.
Die Gemeinderegionen bleiben vorerst unverbindlich. Dennoch gehen Sie mit VAGS an die neue Aufgabenteilung. Wie gehen Sie vor?
Anton Lauber: Wir haben Kriterien definiert, nach denen wir die Aufgaben prüfen: Subsidiarität, Gemeindeautonomie und Variabilität, Fiskalische Äquivalenz etc. Gleichzeitig konzentrieren wir uns auf die Zusammenarbeit von Kanton und Gemeinden. Wir haben uns auf ein gemeinsames Vorgehen verpflichtet. Sobald die Gemeinden bei einem Projekt betroffen sind, werden sie von Anfang an miteinbezogen.
Urs Hintermann: Diese neue Weise der Zusammenarbeit muss man auch lernen, da muss man Erfahrungen sammeln. Das machen wir mit dem Pilotprojekt. Die Lehren fliessen in die nächsten Projekte ein. Der Kanton ist mehr oder weniger eine Einheit, aber auf der anderen Seite haben wir 86 Gemeinden, die nicht alle die gleichen Interessen haben. Wenn wir gemeinsam etwas erarbeiten wollen, dann müssen wir schauen, dass ein breites Spektrum an Gemeinden beteiligt ist, damit wir Lösungen finden, die für möglichst viele Gemeinden funktionieren. Bis jetzt hat man immer geschaut, dass auch die kleinste und die schwächste Gemeinde bei der Lösung integriert ist. Aber das behindert uns grösseren Gemeinden natürlich extrem.
Ist in den Gemeinden und in der Verwaltung eine Mentalitätsänderung nötig, damit diese Zusammenarbeit beim VAGS erfolgreich wird?
Anton Lauber: Das ist ein wichtiger Punkt. Die Gemeinden haben mit allen Direktionen Kontakt, nicht nur mit ihrer Stammdirektion, der Finanz-, Kirchen- und in Klammern Gemeindedirektion. Das Projekt VAGS richtet sich denn auch an alle Direktionen. Auch sie müssen die Zusammenarbeit mit den Gemeinden suchen, also ein VAGS-Projekt starten, sobald die Gemeinden betroffen sind. Das ist für mich als Kantonsvertreter ein wichtiges Bekenntnis, verpflichtend für alle Direktionen an die Adresse aller Gemeinden.
Urs Hintermann: Ja, dieser Mentalitätswandel ist ein ganz zentraler Punkt, das braucht es bei allen: beim Kanton, bei der Regierung, in der Verwaltung und genauso in den Gemeinden. Alle Gemeinden sind sich einig: Sie wollen mehr Selbstbestimmung und Handlungsspielraum. Aber wenn die Gemeinden tatsächlich eine Aufgabe übernehmen könnten, dann überlassen sie diese aktuell eher dem Kanton. Ein Beispiel: Gemäss Gesetz haben alle Gemeinden die Möglichkeit, selbst Bauvorhaben zu prüfen und zu bewilligen. Aber Reinach übernimmt als einzige Gemeinde diese Aufgabe selbst. Man kann nicht auf der einen Seite mehr Autonomie verlangen und auf der anderen Seite die Möglichkeiten nicht ausschöpfen. Ich bin überzeugt, wir Gemeinden brauchen mehr Autonomie. Aber dann muss man auch den Mut haben, hinzustehen und Verantwortung zu übernehmen.
Was denken Sie, wie lange dauert es, bis VAGS am Ziel ist und die Aufgaben neu verteilt sind. Gibt es einen Zeithorizont?
Anton Lauber: Jahrzehnte.
Urs Hintermann: Das ist ein Dauerauftrag.
Anton Lauber: Wir tun so, als hätten wir die Aufgabenteilung neu erfunden. Die Aufgabenteilung als solches ist und war immer schon Thema. Über die VAGS-Projekte gehen wir sie nun aber zum ersten Mal strukturiert und ein Stück weit formalisiert an. Das ist ein langjähriger Prozess. Das Ziel ist es, die Gemeinden für die Zukunft stark zu machen und so auch das Gesamtsystem Kanton zu stärken. Wir wollen wettbewerbsfähig bleiben, attraktiv als Wohnraum und als Wirtschaftsraum. Dafür arbeiten wir. Dafür lohnt sich der Aufwand für den VAGS.
Das Interview führte Isabelle Pryce.
20.3.2017